Ich weiß, ich hinke mit der Berichterstattung etwas hinterher. Aber hier auf dem Camino ist das WLAN rar gesät.
Tag 4 ging es eigentlich nur darum, mein Ziel – Viana do Castelo – zu erreichen. Morgen kommen dort meine Tochter Kira und meine Freundin Karin an. Problem ist, dass es noch 37 km sind und die letzte Unterkunft vor dem Zielort ist 25 km entfernt. So würde ich es morgen nicht mehr schaffen rechtzeitig in Viana zu sein.
Sieben Uhr laufe ich los. Die ersten Tage stecken bereits in den Knochen. Allerdings ist es angenehm kühl und ich komme erstmal gut voran. Ich laufe durch endlose Gemüseplantagen. Gegen 12 Uhr kehre ich das erste Mal ein, um mich zu stärken und einen Kaffee zu trinken.
Taxi?
Da kommst Du auf einer einsamen Straße um die Ecke und da steht dieses Auto unbemannt dort. Ich schaue mich um – niemand da. Ich komme zu dem Entschluß, dass man dem Fahrer hier an Ort und Stelle den Führerschein weggenommen hat und gehe mit einem Grinsen weiter meines Weges.
Ich quäle mich durch verschiedene Orte und versuche nicht darüber nachzudenken, wie weit es noch ist.
Natürlich halte ich unterwegs immer wieder die Augen offen nach einer doch möglichen Unterkunft. Komisch ist auch, daß ich heute noch nicht einen Pilger getroffen habe.
Gegen 15 Uhr habe ich meinen Tiefpunkt erreicht. Als ich einen Berg hinunter trotte ruft ein älterer Mann nach mir. Er steht dort und fragt mich – kurz vorm Hitzschlag – ob ich eine Orange haben möchte. Jaaaaaaaaaaa, bitte. Ich spreche Spanisch mit ihm und er ist verwundert – fragt, ob ich Spanierin bin? Nein, ich bin Deutsche. Und siehe da, der nette Herr kann auch Deutsch, da er lange Zeit in Lübeck gearbeitet hat. Ich schäle die Orange noch vor Ort und esse sie wie einen Apfel. Alles klebt – aber die Erfrischung ist es wert.
Der Ort heißt Estrada und ich finde (endlich) ein kleines Café. Ich stopfe mir sinnlose Kohlenhydrate hinein – aber mein Körper schreit danach. Ich merke schnell, daß die Stimmung hier sehr betrübt ist. Gegenüber ist eine kleine Kirche und das ganze Dorf ist plötzlich auf den Beinen. Jetzt fällt mir auch im Café auf, dass alle Leute schwarz tragen. Eine Beerdigung. Mir fällt allerdings auch auf, dass die alten Leute alle im oder vor dem Cafe sitzen. Und die jungen Leute im Kirchhof sind. Der Orangenmann kommt dazu und klärt mich auf: Eine 31jährige Mutter ist an Krebs gestorben. Das hat gesessen …. wie klein sind da plötzlich meine Probleme? Ich schwöre mir, FROH zu sein – dass ich laufen kann und darf! Schnell muss ich diesen Ort verlassen. Die Gedanken hängen mir nach. Die Füße schmerzen, aber immer wieder danke ich dem lieben Gott dafür, dass ich diese wunderbare Reise machen kann – gesund. Ich spüre endlose Dankbarkeit – mir und meiner Familie geht es sehr sehr gut. Es gibt keinen Grund zu jammern. Und so sage ich mir – wie so oft – Schritt für Schritt – mach langsam – jeder getane Schritt bringt Dich dem Ziel näher.
Ich gelange in einen schattigen Eukalyptuswald, worüber ich sehr froh bin. Wenigstens ein wenig der Hitze entkommen. Auch für die Füße ist es eine Wohltat nach dem harten Asphalt.
Nach kurzer Zeit erreiche ich einen Fluß, den man über einen Steinsteg überqueren muss.
Und siehe da, es sind tatsächlich noch zwei andere Pilger unterwegs – genau genommen zwei Pilgerinnen. Schnell kommen wir ins Gespräch. Anna und Andrea aus Deutschland. Ein Teil des Weges laufen wir gemeinsam. Die beiden sind genauso geplagt von der Hitze wie ich. Und sie haben sogar das gleiche Ziel – heute noch nach Viana do Castelo.
Wir laufen noch gemeinsam bis zur Santiagokirche (nein, nicht DIE Santiagokirche 😉 ).
Danach trennen sich unsere Wege, da ich etwas zügiger voran kommen möchte. Ich zwinge mich nicht darüber nachzudenken, dass immer noch 13 km vor mir liegen und ich heute verdammt spät ankommen werde und vielleicht sogar ein Problem mit der Herberge bekommen könnte ….. nein, Natur genießen und weiter – Schritt für Schritt.
Ganz ehrlich, richtig viel wahrgenommen habe ich auf den letzten Kilometern nicht mehr. Ich bin einfach gelaufen, gelaufen, gelaufen. Ankommen – nichts anderes mehr im Kopf. Und endlich sehe ich Viana do Castelo zu meinen Füßen liegen. Mit knapp 90.000 Einwohnern kein kleines Dorf. Aber was ich sehe, ist diese scheinbar ewig lange Brücke, die der Stadt vorgelagert ist. Jetzt bin ich so weit gelaufen und fast am Ziel, da schreckt mich diese Brücke so ab. Erstens wieder aus Metall (ähnlich wie die in Porto!), zweitens wieder hoch und drittens lang. Hmmmmmpf! Also 645m ist diese Brücke lang. Und leider habe ich erst bei späterer Recherche erfahren, dass es die Ponte Eiffel ist. Jawohl, entworfen von Gustav Eiffel, der zu einem späteren Zeitpunkt auch den Eiffelturm zu Paris erbaut hat. Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich wahrscheinlich mit etwas mehr stolz in Viana do Castelo eingelaufen. Nun gut.
Brücke hinter mir gelassen und 100m weiter rechts befindet sich die Herberge – im Kloster der Karmeliter mit 20 Betten. Bitte, bitte habt noch ein Bett für mich frei. Zwischenzeitlich ist es 19.15 Uhr – verdammt spät.
Erster Hinweis an der Tür: Nach 19 Uhr bitte anrufen! Mist, Mist, Mist. Ich klingel trotzdem. Eine mürrische Männerstimme erklingt etwas ungehalten. Ich frage nach einem Bett. Der Mann an der Gegensprechanlage legt auf. Nein, bitte nicht. Ich warte. Und tatsächlich wird die Tür geöffnet. Er schaut mich an mit diesem süffisanten Grinsen. Ich wiederhole meine Frage nach einem Bett. Er schließt die Augen – und, jetzt ehrlich, macht sie nicht mehr auf. Hallo? Hat er meine Frage nicht verstanden. Er steht dort mit geschlossenen Augen vor mir. Bestimmt zwei Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen. Dann hebt sich wie in Zeitlupe seine Hand und er zeigt mir mit dem Zeigefinger – eins, nur noch ein Bett ist frei. Oh mein Gott, ich bin angekommen. Ein tonnenschwerer Stein fällt mir vom Herzen. Ich schwitze, mir ist heiß. Die Füße fallen gleich in Scheiben ab. Aber ich habe ein Bett. Danke.
Ich werde eingebucht. Zahle meine 6€ – natürlich ist mein Bett wieder oben. Und ohne Sicherungsreling rechts und links. Auch auf dem 3. Camino für mich immer noch der Horror. Egal.
Jetzt erstmal WLAN – hatte heute nur einmal kurz Kontakt nach Hause. WLAN gibt es in dem Kloster – aber leider funktioniert es nicht. Oh nein. Ich muss doch wissen, ob für morgen alles in Ordnung ist? Zudem ist es in Spanien schon eine Stunde später. Also schnell ab in die Stadt WLAN suchen. Nix. Nada. Wieso hat hier alles zu? Es ist Freitagabend und die Semana Santa beginnt. Gegen 21 Uhr finde ich eine kleine Bar. Ich habe noch nichts gegessen. Endlich Kontakt zu den Lieben nach Hause. Alles in Ordnung. Morgen früh geht der Flieger um 09.10 Uhr nach Porto für die beiden. Und dann noch mit dem Zug zu mir. Ich habe mir zwischenzeitlich ein Bounty und ein SuperBock-Bier bestellt. Schnell merke ich, dass ich heute wahrscheinlich nichts mehr essen werde. Meine Güte, wie das Bier reinhaut – gibt´s ja gar nicht.
- Hier besser kein Foto! 🙂
Zurück im Kloster (Schließzeit 23 Uhr) gehe ich schnell duschen und im Hof treffe ich auf neue Kontakte. Ein Pärchen aus Deutschland. Eine lustige Blondine (nicht zynisch gemeint!) aus den Niederlanden. Ich gönne mir ein zweites Bier. Wohlbehagen stellt sich ein und natürlich die Aussicht auf einen ruhigen Tag morgen. Während die beiden anreisen werden, werde ich mir die Stadt anschauen. Chillen. Kaffee trinken. Vom heutigen Gewaltmarsch erholen. YES! Und auf das Wiedersehen morgen freue ich mich ganz besonders. Und ich werde ab sofort nicht mehr „alleine“ laufen.
Etappe: Camping Rio Alto – Apúlia – Fao – Esposende – Marinhas – Outeiro – Estrada – Rio Neiva – Santiago – Chafé – Anha – Darque – Viana do Castelo – 37 km